TikTok: Tugend der Generation Z, Laster der Trump Administration und jüngst auch noch selbsterklärte Bildungsplattform. Wir haben uns die Frage gestellt, wie effektiv eine App, die für ihre unbekümmerten Tanzvideos bekannt ist, wertvolle Lernerfahrungen bereitstellen kann.
Ein Blick auf die Website von TikTok verrät die selbsterklärte Mission der App: “das Leben der Menschen zu bereichern und zu inspirieren”. Seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie, die unzählige Schüler*innen zum Lernen aus dem Klassenzimmer ins Wohnzimmer verbannt hat, hat TikTok jedoch eine weitere Aufgabe übernommen: Bildung direkt nach Hause zu liefern. Mit dem Hashtag #LearnOnTikTok (#LernenMitTikTok) hat die App eine Reihe von finanzierten Bildungsinhalten auf den Weg gebracht. So will das Unternehmen gleichermaßen Lehrende unterstützen—sei es Einzelpersonen oder Organisationen—die von der Pandemie betroffen sind. Langfristiges Ziel ist es, eine breite Basis von Bildungsanbietern zu etablieren, die TikTok dauerhaft zu einem seriösen Bildungsportal machen soll.
TikTok springt also auf den Bildungszug auf, aber wie effektiv kann man mit maximal 60-sekündigen Videos tatsächlich lernen? Und wie wahrscheinlich ist es, dass Lernvideos sich auf TikTok durchsetzen?
TikTok Takeover?
Das Konzept des Microlearnings oder Mikrolernens, das heißt des Lernens durch regelmäßigen Konsum kleiner Wissensschnipsel, ist keine bahnbrechende Erfindung von TikTok. Schon seit dem späten 19. Jahrhundert gilt regelmäßiges Wiederholen gelernter Inhalte und Konzepte als Schlüssel zu einer besseren Wissensbewahrung. Der deutsche Psychologe Hermann Ebbinghaus stellte fest, dass ohne regelmäßiges Auffrischen mehr als 75 % der neu erlernten Inhalte nach einer Woche vergessen sind.
Auch wenn regelmäßige Wiederholungen unerlässlich sind, um sich tatsächlich an zuvor gelernte Inhalte zu erinnern, so ersetzen sie doch nicht jene Inhalte. Formale Lernsituationen ermöglichen es, Themen ausgiebig zu erforschen und vermitteln den Lernenden wertvolles, tiefgehendes Wissen, das in einem kurzen Video einfach nicht vermittelt werden kann. Dasselbe gilt für das Lernen in Unternehmen: Jeder, der mit dem 70:20:10-Modell vertraut ist, weiß, dass zwar nur 10% des Wissens in formalen Lernumgebungen erworben werden, dass diese 10% jedoch eine wesentliche Wissensbasis darstellen. Ist diese Basis erst einmal vorhanden, findet ein Großteil des Lernens im alltäglichen Umfeld des Arbeitsplatzes statt. So wie FlowShare keine Software-Benutzerhandbücher ersetzt, so ersetzt TikTok auch keine Lehrbücher. Beides ist nicht das richtige Format für eine allumfassende Lernerfahrung. Aber beide bieten, wenn sie richtig eingesetzt werden, eine sehr wertvolle Ergänzung des Lernprozesses durch bekömmliche Wissensnuggets.
TikTok und Microlearning – Ein Blick in die Zukunft
Ob #LearnOnTikTok letztlich die angestrebte (Mikro-)Lernplattform wird, hängt von denen ab, die sie nutzen: Wenn der leistungsstarke TikTok Algorithmus von Usern lernt, dass diese Bildungsinhalte bevorzugen, dann werden ebensolche Lerninhalte vermehrt empfohlen. Aber in dieser Hinsicht unterscheidet sich TikTok nicht wesentlich von anderen Social-Media-Plattformen. Basierend auf der Interaktion der Benutzer, also was sie liken, teilen und kommentieren, kann der KI-gestützte Algorithmus der Plattform grundlegende Interessen ableiten und entsprechende Empfehlungen aussprechen. Das Alleinstellungsmerkmal von TikTok liegt woanders: Die Videoempfehlungen, die Nutzer erhalten, hängen weder von der Anzahl der Follower des Videomachers, noch vom Erfolg früherer Videos ab.
Das bedeutet, dass praktisch jedes Video viral verbreitet werden kann, und zwar nur auf Basis seines Inhalts in Kombination mit den Interessen anderer Nutzer. Was für aufstrebende TikTok-Berühmtheiten eine gute Nachricht ist, ist––im Sinne des Themas dieses Beitrags––eine noch bessere für Autoren von Bildungsinhalten: Eine Erklärung des Satzes des Pythagoras wird sich ebenso wahrscheinlich verbreiten wie der nächste große TikTok-Tanz.